In einem am 15.08.2007 verkündeten rechtskräftigen Urteil des OLG Thüringen geht es um die grob fehlerhafte Unterlassung einer histologischen Abklärung eines Mammatumors mit Wachstumstendenz. Hier fordern die Gutachter eindeutig, sich nicht allein auf die bildgebenden Verfahren zu verlassen. Die Ausführungen des Gerichts betreffen aber auch das Verhältnis zwischen auftraggebendem und auftragnehmendem Arzt und die Pflichten bei der konsiliarischen Begutachtung gegenüber Kollegen und Patienten.
Das Thüringer OLG erkannte dem Sohn und Erben einer an den Folgen eines Mammakarzinoms verstorbenen Frau Schadensersatz und Schmerzensgeld in Höhe von knapp 100.000,00 € zu. Beklagte waren der behandelnde Gynäkologe sowie ein Onkologe. Die Mutter war seit 1995 in gynäkologischer Behandlung. 1998 konsultierte die damals 25-jährige den Frauenarzt wegen eines Knotens in der linken Brust, der diesen aufgrund des von ihm erhobenen Tastbefundes als gutartig einstufte. Im Rahmen einer nachfolgenden Kontrolluntersuchung veranlasste der Gynäkologe die Durchführung einer Mammasonographie und einer Mammographie. Es wurden zwei Verhärtungen festgestellt mit dem Ergebnis, dass sonographisch und mammographisch kein Anhaltspunkt für einen malignen Prozess bestand. 1999 wurde in den Behandlungsunterlagen vermerkt, dass von zwei tastbaren Knoten einer größer geworden war. Die wiederum durchgeführte Mammasonographie und Mammographie endete mit der Empfehlung, eine weitere Abklärung durch Stanzbiopsie oder Entnahme der beiden Knoten durchzuführen. Der dann hinzugezogene Onkologe stellte in einer erneuten Mammasonographie fest, dass es sich offensichtlich um Fibroadenome handele. Halbjährlich durchgeführte Sonographien führten Ende 2000 schließlich zu der Entfernung der Knoten. Einer hatte mittlerweile die Größe von 17 x 19 mm erreicht. Es wurde histologisch ein bösartiges Mammakarzinom festgestellt, zudem zahlreiche Lymphknoten- und Lebermetastasen. Die Frau verstarb im Alter von 31 Jahren an den Folgen der Krebserkrankung. Das Gericht attestierte den Beklagten auf der Grundlage der Sachverständigenbegutachtung, dass spätestens aufgrund der im März 1999 vorliegenden Befunde eine histologische Abklärung des Tumorgewebes zwingend erforderlich gewesen sei. Die Unterlassung dieser Befunderhebung bewertet der Senat als grob fehlerhaft. Dem beklagten Gynäkologen sei ein schuldhafter Behandlungsfehler unterlaufen, indem er sich trotz der Vorbefunde, des Größenwachstums und der bestehenden Anzeichen für eine Malignität des Tumors auf die von dem Onkologen allein aufgrund dessen Mammasonographie erhobene Diagnose verlassen und keine Gewebeuntersuchung veranlasst habe. Der hinzugezogene Sachverständige verwies auf ein grundsätzliches Prinzip: Bei Wachstums eines Tumors sei die histologische Klärung immer zwingend indiziert. Aallein das hier angewandte bildgebende Verfahren der Sonographie sei hinsichtlich Sensivität und Spezifität nicht hoch genug, um die Dignität des Tumors zu festzustellen. Das Unterlassen der zwingend gebotenen histologischen Abklärung seitens beider Beklagten sei als grober Behandlungsfehler, der hier zur Umkehr der objektiven Beweislast führe, anzunehmen. Der Gynäkologe könne sich nicht damit entlasten, dass er wegen der besseren Fachkenntnisse des Onkologen dessen Befund „blindlings" vertrauen durfte. Der Onkologe hafte über seinen Diagnosefehler hinaus ebenfalls für die unterlassene histologische Befunderhebung. Der Gynäkologe habe wegen der ihm weiterhin obliegenden Behandlungsverantwortung selbst auf eine histologische Abklärung drängen müssen. Eine vollständige Behandlungsübernahme durch den Onkologen sei nämlich nicht erfolgt. Dem Tätigwerden des Onkologen lag zwar der kassenärztliche Überweisungsschein des Gynäkologen zugrunde, der die Fragestellung „Mammatumor?" enthielt, der Überweisungsschein an den Onkologen war damit aber auf die Abklärung dieses Befundes gerichtet und enthielt mithin (nur) einen Untersuchungsauftrag, der die Behandlung durch den Gynäkologen nicht abbrach. Mit der Inanspruchnahme des Onkologen kam zwar ein neuer Behandlungsvertrag zwischen diesem und der Patientin zustande. Dies bedeutet in diesem Falle aber nicht die vollständige Übernahme der Behandlung.
Für den beklagten Gynäkologen gilt demnach folgendes: Zieht der behandelnde Arzt den weiteren Arzt konsiliarisch hinzu, verbleibt nicht nur die Pflicht zur Behandlung der Patientin und damit auch die Koordination der ärztlichen Zusammenarbeit beim überweisenden Arzt. Er muss den Konsiliararzt rechtzeitig einschalten und ausreichend unterrichten, insbesondere ihm bekannte fremdanamnestische Befunde übermitteln. Nach ober- und höchstrichterlicher Rechtsprechung ist zwar anerkannt, dass bei der konsiliarischen Hinzuziehung – wie stets für die Zusammenarbeit von Ärzten – der Vertrauensgrundsatz gilt. Der hinzugezogene Arzt kann sich im Regelfall darauf verlassen, dass der überweisende Arzt den Patienten in seinem Verantwortungsbereich sorgfältig untersucht und behandelt hat und dass die Indikation zu der erbetenen Leistung zutreffend gestellt ist. Der überweisende Arzt darf seinerseits darauf vertrauen, dass die vom Konsiliararzt erhobenen Befunde richtig sind. Oberstes Gebot und Richtschnur indes bleibt das Wohl des Patienten. So ist in Fällen der horizontalen Arbeitsteilung anerkannt, dass die beteiligten Ärzte den spezifischen Gefahren der Arbeitsteilung entgegenwirken müssen und es deshalb bei der Beteiligung mehrerer Ärzte einer Koordination der beabsichtigten Maßnahmen bedarf. Hieraus folgt, dass der weiterbehandelnde Arzt die Befunde des hinzugezogenen Arztes einer Plausibilitätskontrolle unterziehen muss. Die Arbeitsteilung darf im Ergebnis jedenfalls nicht dazu führen, dass eine Behandlerseite „blind" wird und sich keine Gedanken mehr über die weiterführende Diagnostik macht. Umgekehrt darf der mittels Überweisungsschein hinzugezogene Arzt seine Tätigkeit nicht auf die technische Ausführung des Auftrags begrenzen und sich lediglich in der Rolle eines Werkzeugs ohne eine Verantwortung sehen. Er muss prüfen, ob die von ihm erbetene Leistung den Regeln der ärztlichen Kunst entspricht und nicht etwa kontraindiziert ist, ob der Auftrag richtig gestellt ist und dem Krankheitsbild entspricht. Keinesfalls darf ein Arzt, der an der Richtigkeit einer ihm übermittelten Diagnose oder Indikationsstellung Zweifel hat oder haben muss, diese auf sich beruhen lassen.
Exkurs: Der „grobe Behandlungsfehler"
Das Thüringer Oberlandesgericht hat hier einen groben Behandlungsfehler angenommen. Ein solcher liegt vor, wenn „der Arzt eindeutig gegen bewährte ärztliche Behandlungsregeln oder gesicherte medizinische Erkenntnisse verstoßen und einen Fehler begangen hat, der aus objektiver Sicht nicht mehr verständlich erscheint, weil er einem Arzt des entsprechenden Fachs schlechterdings nicht unterlaufen darf", so der Bundesgerichtshof in ständiger Rechtsprechung. Folge des groben Behandlungsfehlers ist die „prozessuale Höchststrafe" im Arzthaftungsrecht, nämlich eine Beweislastumkehr zugunsten des Patienten. Muss bei einem einfachen Behandlungsfehler der Patient beweisen, dass sein Schaden auf dem Fehler des Arztes beruht, ist die Beweislage bei groben Behandlungsfehlern genau umgekehrt: Der Arzt muss beweisen, dass die vom Patienten beklagten Schäden nichts mit seiner Behandlung zu tun haben und auf alternativen Ursachen beruhen – ein Beweis, der in der Mehrzahl der Fälle nicht gelingt. Folge ist dann der Prozessverlust des Arztes.
Die Frage des groben Behandlungsfehlers spielt in Haftungsprozessen gegen Pathologen stets eine Rolle bei falsch-negativen Krebsdiagnosen. Die durch den Diagnosefehler verzögerte Heilbehandlung beim Patienten führt meist nicht naturwissenschaftlich zwingend beweisbar zu einem Gesundheitsschaden. Die vom Gericht beauftragten Sachverständigen können allenfalls abweichende Mortalitätsraten bei früherem oder späterem Behandlungsbeginn mitteilen, was dann zu einer Erhöhung der Wahrscheinlichkeit führt, dass der Behandlungsfehler für einen Gesundheitsschaden kausal geworden ist. Eine solche Wahrscheinlichkeitserhöhung reicht dem Gericht aber nicht aus, da es Gewissheit oder zumindest an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit benötigt. Die Folge ist die Abweisung der Patientenklage wegen Beweisfälligkeit. Kehrt sich hingegen die Beweislast aufgrund eines groben Behandlungsfehlers um, gewinnt der Patient, weil der Pathologe nicht beweisen kann, dass der Patient bei früherem Behandlungsbeginn dieselben Gesundheitsschäden erlitten hätte. Auch hier gibt es nur Wahrscheinlichkeiten, aber keine Gewissheit.
Bei falsch-positiven Diagnosen stellt sich die Frage nicht, denn der durch überflüssige Heilbehandlung (Chemotherapie, erneute Biopsien, überflüssige Tumorentfernung) eingetretene Gesundheitsschaden lässt sich auf Patientenseite meist eindeutig beweisen.