Sehr geehrte Damen und Herren,
in der 35. Ausgabe meines Informationsbriefs berichte ich über aktuelle Rechtsprechung des 12. Senats des Bundessozialgerichts, Aktenzeichen B 12 R 1/21 R. Dieser Senat ist für die gesetzliche Sozialversicherungspflicht zuständig. In diesem Rechtsgebiet gibt es seit Jahrzehnten Streit darüber, ob es sich bei Angehörigen einzelner Berufe um Selbständige handelt, die von der Sozialversicherungspflicht befreit sind oder ob eine solche Pflicht besteht. Besondere Beachtung haben in der Öffentlichkeit die Prozesse um die Sozialversicherungspflicht von Auslieferungsfahrern für Tiefkühlkost, Profi-Fußballspielern sowie zuletzt Honorarärzten in Krankenhäusern gefunden.
In einer Sitzung vom 19. Oktober 2021 hat der 12. Senat weitere Fälle aus dem Gesundheitswesen gesammelt verhandelt. In drei Fällen ging es um nebenberuflich tätige Notärzte im Rettungsdienst, in zwei Fällen um Mitarbeiter von ambulanten Pflegediensten und in dem letzten, uns besonders interessierenden Fall, um eine Praxisvertreterin in einer Gastroenterologischen Praxis. Allen Fällen gemeinsam war, daß es sich bei dem Prozeßgegner um die Deutsche Rentenversicherung Bund handelte, die offensichtlich in letzter Zeit ihre Verwaltungspraxis umgestellt hat und versucht, möglichst viele auf der Grenze zwischen selbständiger und angestellter Tätigkeit befindliche berufliche Tätigkeiten als sozialversicherungspflichtig zu qualifizieren. Dies mag zum einen an der zunehmenden Einwanderung in die Sozialsysteme liegen, zum anderen an der immer ungünstiger werdenden Alterspyramide in der Bevölkerung. Die gesetzlichen Versicherungssysteme geraten in Bedrängnis und man versucht, auf der Beitragsseite die Ecken auszukehren.
Der Volltext der am 19.10.2021 ergangenen Entscheidung liegt noch nicht vor. Ich berichte ausschließlich aufgrund einer Pressemitteilung des Bundessozialgerichts. Hiernach handelte es sich bei der klageführenden Ärztin um eine Oberärztin eines Krankenhauses, die in einer Gastroenterologischen Gemeinschaftspraxis Vertretungen eines Arztes wegen Urlaubs oder Krankheit übernahm. Sie führte dabei unter anderem endoskopische Untersuchungen durch, schrieb Befundberichte und gab Therapieempfehlungen. Hierfür erhielt sie eine Vergütung je Einsatzstunde.
Das Gericht entschied, daß diese Ärztin in der gesetzlichen Krankenversicherung, Rentenversicherung und Pflegeversicherung sozialversicherungspflichtig beschäftigt sei. Sie sei insbesondere bei der Zuweisung bestimmter Patienten weisungsgebunden. Aufgrund des arbeitsteiligen Zusammenwirkens mit dem Praxispersonal und der kostenfreien Nutzung von Einrichtungen und Mitteln der Gemeinschaftspraxis sei sie in deren Arbeitsläufe eingegliedert gewesen. Das ausschließliche Tätigwerden in einer Vertretungssituation ändere daran nichts. Der Eingliederung in einem fremden „Arztbetrieb“ könne es zwar entgegenstehen, wenn ein Arztvertreter für die Dauer seiner Tätigkeit die Stelle des Praxisinhabers einnehme und zeitweilig selbst dessen Arbeitgeberfunktionen erfülle. Dies sei hier aber nicht der Fall gewesen. Die Ärztin habe lediglich die ärztlichen Leistungen vertretungsweise erbracht und keine Vertretung in der Rechtsstellung der Mitglieder der Gemeinschaftspraxis geleistet. Ob mit der gewählten Ausgestaltung der ärztlichen Vertretung berufszulassungsrechtlichen Anforderungen genüge getan werde, sei für die sozialversicherungsrechtliche Einordnung einer Tätigkeit als Beschäftigung unerheblich.
Diese bisher bekannten Formulierungen der Entscheidung werfen mehr Fragen auf als sie beantworten. Insbesondere wird abzuwarten sein, ob in der Volltext-Veröffentlichung ersichtlich wird, wie genau das Gericht eine sozialversicherungspflichtige von einer nicht-sozialversicherungspflichtigen Tätigkeit bei der Vertretung abgrenzt. Die Wahrnehmung von Arbeitgeberpflichten wird dabei sicher ein Abgrenzungskriterium sein. Fordert das BSG hierzu, daß Praxisvertreter z.B. das Recht haben sollen, Personal zu kündigen? Genügt es für eine echte freiberufliche Tätigkeit, daß der Praxisvertreter selbst bestimmen kann, welche Untersuchungen er vornimmt? Muß er sich in irgendeiner Form an der Praxisorganisation beteiligen? Wenn ja, in welcher Form? Es ist zu erwarten, daß angesichts dieser Unsicherheiten das Urteil des BSG nicht das letzte Wort in dieser Frage ist. Vielmehr werden vor den Instanzgerichten wahrscheinlich noch etliche Fälle, in denen es um Praxisvertreter geht, anhängig werden. Interessant wird auch sein, welche Rechtsposition die ärztlichen Versorgungswerke in dieser Frage beziehen. Hier könnte es zu entscheidenden Wettbewerbsvorteilen kommen für diejenigen Ärzte, die oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze verdienen bzw. nicht mehr sozialversicherungspflichtig sind, weil sie die Altersgrenze erreicht haben.
Wie soll man sich nun angesichts dieser neuen Rechtslage verhalten? Ich rate grundsätzlich davon ab, zu früh in vorauseilendem Gehorsam die Praxisvertreter zur Sozialversicherung anzumelden. Es wird abzuwarten sein, was sich aus der Urteilsbegründung im Einzelnen ergibt. Die Steuerberater, die die Lohnbuchhaltung durchführen, werden relativ bald über das Urteil informiert sein und entsprechende Beratungshilfen geben können.
Im Innenverhältnis zwischen dem Praxisinhaber und dem Vertreter bedarf es nach meiner Auffassung keiner besonderen Regelungen. Wenn eine gesetzliche Sozialversicherungspflicht besteht, tritt die Beitragspflicht für beide Seiten automatisch ein. Das gilt auch für Vertreter, die Mitglied eines Versorgungswerks sind, da hier zwar keine Beitragspflicht des Vertretenen, aber ein Freistellungsanspruch des Vertreters besteht. Für die Praxisinhaber würde eine durchgehende Versicherungspflicht für Vertreter eine Verteuerung der Vertretungskosten um knapp 20 Prozent bedeuten.
Ich wünsche Ihnen trotz dieser für manche von Ihnen unangenehmen Nachrichten ein friedvolles Weihnachtsfest und einen angenehmen und gesunden Übergang in das neue Jahr.
Herzlichst Ihr
C. Renzelmann